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Die Schuldfrage

Montag, 02.02.2015

Heute wird's zwar etwas theoretisch und es handelt sich um meinen bislang umfangreichsten Blog-Eintrag, doch es lohnt sich. Es geht um ein Thema, über das kaum öffentlich gesprochen wird. Dabei halte ich es für die Pflicht jedes Einzelnen, dass er sich zumindest schon mal damit auseinandergesetzt hat: Es geht um die Verantwortung des eigenen Handelns. Aber auch um die Schuldfrage generell, zum Beispiel bei Delegation, oder auch bei Unterlassung einer Handlung. Dabei geht es uns nicht um rechtliche Tatsachen, sondern um Moral. Kann man sich beispielsweise schuldig machen, indem man nur seine Pflicht tut? Dazu später mehr.

Um nicht zu theoretisch zu werden, möchte ich mit Beispielen arbeiten...

Geiz ist geil?

Verantwortung als Verbraucher

„Geiz ist geil!“ möchte uns die Werbung weismachen – TV, Handy und PC zum Schnäppchenpreis. Doch wie ist das möglich? Klar, alles made in China. Doch wer beschäftigt sich als Verbraucher schon vor dem Kauf eines technischen Geräts damit, wo und unter welchen Bedingungen es hergestellt wurde?
Handtasche, Jeans und Schuhe dasselbe: Alles aus Fernost und Billiglohnländern. Hat man überhaupt eine Alternative?
Wie kann ein tiefgefrorenes Huhn für ca. 3 EUR den Supermarkt verlassen, wenn dabei Händler, Staat und Industrie auch noch etwas verdienen wollen? Klar, wir wissen es: Massentierhaltung ist ein Cent-Geschäft auf Kosten der Lebensqualität für diese armen Geschöpfe. Und trotz dieses Wissens lassen sich die meisten Kunden zum Kauf verführen.

Die alles entscheidende Frage lautet: Wer trägt die Schuld daran, dass all diese Produkte auf Kosten der Tiere, Menschen und oft auch mit massiven Folgen für unsere Umwelt produziert werden? Die Industrie, da sie diese Produkte unter diesen Bedingungen herstellt und in Umlauf bringt? Oder der Händler, der sein Angebot anders gestalten könnte und die Möglichkeit hätte, alternative Lieferanten zu suchen. Oder liegt die Verantwortung einzig und allein beim Verbraucher, der sich vor seinem Einkauf erst mal gründlich informieren könnte, woher die ganzen Sachen kommen und wie sie produziert werden? Vielleicht ist auch die ungleiche Vermögensverteilung Schuld daran, dass die Mehrheit der Bevölkerung zum Sparen gezwungen ist? Nur am Rande: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung verfügt über 40% des gesamten Weltvermögens, die ärmeren 50% zusammen nur über 1% (Quelle: Wikipedia)!

KaffeeDoch die Schuldfrage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Folgende Personengruppen würde ich auf jeden Fall ausschließen, da sie in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen:
Es sind nicht die armen Erntearbeiter, die 16 Stunden am Tag für einen Hungerlohn Kaffeebohnen ernten, um das Überleben ihrer Familie zu sichern und auch nicht die Näher einer Textilfabrik in Bangladesch, die unter Menschenunwürdigen Bedingungen Jeans-Hosen produzieren, die dann zu einem Preis von deutlich unter 5 EUR pro Stück nach Europa exportiert werden.

Hersteller-VerbraucherSchuld trägt doch eigentlich immer, wer freiwillig und absichtlich eine Handlung herbeiführt. Und das unter Umständen sogar unabhängig davon, ob er sich deren Tragweite bewusst ist. Im aktuellen Beispiel sind es also die Hersteller der Güter und Lebensmittel. Aber Moment. Trifft diese Behauptung nicht im gleichen Maße auch auf die Konsumenten zu? Und möglicherweise sogar auf die Händler und Großhändler? Die sind genauer betrachtet ja in der Situation, dass auf der einen Seite eine Nachfrage besteht und auf der anderen Seite ein Angebot. Letzteres reichen sie ja quasi nur weiter und schneiden sich für diese Dienstleistung ein Stückchen vom Kuchen ab. Doch werden sie ab diesem Moment schließlich selbst zum Anbieter. Mitschuld? Aber klar doch, keine Frage!

Bildlich gesprochen haben wir eine hängende Kette, die vom Hersteller (respektive der herstellenden Industrie) in den Händen gehalten wird. Jedes Kettenglied steht für eine Beteiligung an diesem Prozess von der Produktion bis hin zum Verkauf und am unteren Ende hängen die Verbraucher. Höchste Gewichtung der Schuldfrage betreffend erhalten die verantwortlichen Hersteller, die die Fäden ziehen, gefolgt von den Endverbrauchern, die mit ihrem Konsumverhalten deutlichen Einfluss auf die Hersteller ausüben. Alles, was dazwischen liegt (Teile des Herstellungsprozesses, Vertrieb, Transport, Logistik, Handel etc.) kann sich der Verantwortung zwar nicht entziehen, ist aber austauschbar.

Für unsere Kette bedeutet dies: Fällt ein einzelnes Kettenglied weg, wird dieses umgehend durch ein neues ersetzt. Wird die Kette vom Hersteller fallen gelassen, hat sich die ganze Sache sofort erledigt. Lassen die Verbraucher die Kette los, so ist diese zwar vorerst weiterhin vorhanden, jedoch verliert sie an Bedeutung. Wenn kaum noch jemand an der Kette festhält, lässt der Hersteller sie entweder los oder tauscht sie gegen eine kleinere bzw. schwächere aus. Doch genau hier liegt einer der Knackpunkte: Solange eine große Anzahl an Konsumenten an der Kette hängen, lässt kaum einer von ihnen los, da jeder zu sich sagt: „So viele hängen neben mir, da kommt's auf mich nicht an“.

Erstes Fazit:
Hersteller und Verbraucher teilen sich die Verantwortung. Gerne wird diese jedoch auf andere abgewälzt, um das eigene Gewissen zu bereinigen.

Beispiel 1: Ein Erzeuger von Schweinefleisch gibt den Verbrauchern die Schuld an den schlechten Tierhaltungsbedingungen, da diese nicht bereit seien, mehr Geld für seine Produkte zu bezahlen. Nur deshalb sei er mangels finanzieller Mittel nicht in der Lage, seinen Schweinemaststall zu modernisieren.
Beispiel 2: Ein Kaffeebohnen-Hersteller argumentiert damit, dass der Markt stark umstritten sei und er deshalb seine Ernte-Arbeiter nicht besser bezahlen könne. Schuld seien also auch die Mitbewerber, da sie ihre Produkte zu Tiefstpreisen anböten, sowie die Großabnehmer, die die Preise diktierten...
Beispiel 3: Nachdem die Käuferin eines Nerzmantels gefragt wird, ob sie ein schlechtes Gewissen wegen der Tiere habe, die für dessen Herstellung leiden und sterben mussten, antwortet diese: „Wenn ich ihn nicht gekauft hätte, hätte es jemand anderes getan“.

Kleiner Themenschwenk gefällig? Nein, wir sind noch immer beim Thema Verantwortung und bei der Schuldfrage. Doch jetzt gehen wir in die nächste Runde...

Das Dritte Reich

Unglaublich: Jeder wusste vom Holocaust, doch niemand unternahm etwas dagegen. Wer genau trug eigentlich die Schuld an der industriellen Massenvernichtung von Millionen Juden? Ganz zu schweigen von Kriegsverweigerern, Behinderten und Leuten mit abweichender politischer Einstellung, denen zu einem Großteil dasselbe Schicksal ereilte? War all dies allein Hitlers Schuld, oder die seiner Helfer und Parteifunktionäre, die ihn dabei unterstützten, anstatt einen Putsch herbeizuführen? Oder müssen wir die Schuld auch bei jedem einzelnen Bürger suchen, der die Chance gehabt hätte, einen Anschlag gegen die Regierung zu verüben oder zu organisieren?

Stellen wir uns wieder unsere Kette vor. Oben steht Hitler und hält sie in seiner Hand. Die Kettenglieder sind Parteifunktionäre der NSDAP, gefolgt von der SS und unten hängt das Volk. In dieser Konstellation wäre es durchaus möglich gewesen, dass ein oder mehrere Leute des Volks gezielt versuchen, einzelne Kettenglieder oder Hitler selbst zu beseitigen. Doch wie uns die Geschichte zeigte, regte sich überraschend wenig Widerstand.

Nun stellt sich die Frage, ob hier die Schuldverteilung so einfach wie im Beispiel der Hersteller-/Verbraucherkette erfolgen kann, oder ob dies aufgrund zusätzlicher Faktoren falsch wäre. Im direkten Vergleich würde Hitler die Hauptschuld tragen, gefolgt vom Volk und erst zuletzt kämen Hitlers Helfer. Doch so einfach ist es nicht. Die beiden gravierenden Unterschiede zwischen unseren (zugegeben auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen) Szenarien sind, dass im aktuellen Beispiel
a) ...das Verhalten und die (einzig zulässige) Meinung des Volks von „oben“ vorgegeben war
b) ...politische Gegner (auch im Volk) einfach aus dem Weg geräumt wurden

Übersetzt auf das andere Szenario hätten wir also nur einen einzigen Hersteller, der jegliche Konkurrenz aus dem Weg räumt und ein einziges Produkt, das der Kunde zu kaufen hat, ob er möchte oder nicht (und Kunden, die sich überwiegend mit diesem Umstand abfinden).

SoldatAnsonsten gibt es jedoch erschreckend viele Parallelen zwischen den Szenarien, auf die ich jetzt nicht näher eingehen werde. Doch zurück zur Schuldfrage. Meiner persönlichen Meinung nach (und ich habe mich ausführlich damit auseinandergesetzt) kann man die Frage nach der Schuld des Volkes hier nicht verallgemeinern. Hier müsste jedes Individuum getrennt betrachtet werden. Ein Mitglied der Partei traf beispielsweise umso mehr Schuld, je mehr Einfluss es hatte. Der einfache Bürger, der nichts gegen das Regime unternahm, tat dies meiner Ansicht nach aus reinem Selbstschutz. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass einem bereits ein einziges falsches Wort im eigenen Familienkreis zum Verhängnis werden konnte. In den Schulen und in der HJ wurden die Jugendlichen schon früh getrimmt, Eltern und Familienmitglieder mit parteifeindlicher Gesinnung zu melden. 16'500 Todesurteile ergingen so bis 1945, wobei die SS und andere Schergen des Regimes zusätzlich überwiegend ohne formelle Verfahren töteten. Unter diesen Umständen muss man klare Abstriche in Punkto Schuldzuweisungen gegenüber dem einzelnen Bürger vornehmen, wenn dieser sich aufgrund dieser Umstände nicht traute, Widerstand zu leisten.

Beleuchtung eines authentischen Falls

Sehen wir uns einen konkreten Fall an, wie er sich laut Augenzeugen tatsächlich zugetragen hat. Ich schildere den Fall mit eigenen Worten und fasse mich dabei kurz (Quelle: http://www.majoonline.de/GWS/marian-krainski.html):

Winter, 1944. Die Aufgabe des polnischen Zwangsarbeiters Krainski des KZ Sandhofen war es, in einer nahe gelegenen Automobil-Herstellerfirma Achsen bzw. Kurbelwellen an einer Drehbank zu schleifen. Eines Tages begab es sich, dass 30 dieser Achsen zu klein ausfielen (möglicherweise sammelte sich diese Menge an Ausschuss auch im Laufe der Zeit an). Über diesen „Vorfall“ wurde seitens der Firmenleitung ein Bericht angefertigt und nach Berlin geschickt, in dem der Arbeiter der Sabotage beschuldigt wurde. Etwa zwei Wochen später, beim Abendappell im Lager, musste Krainski heraustreten, wurde vor den Augen der anderen Häftlinge schwer geschlagen, anschließend mit Handschellen gefesselt und abgeführt. Er wurde gezwungen, die ganze darauffolgende Nacht auf dem Boden zu knien und wurde am nächsten Tag auf dem Schulhof der alten Friedrichschule (diese wurde zeitweise als Lager für KZ-Häftlinge umfunktioniert) durch Erhängen hingerichtet.

Dass es unmöglich sein kann, dass niemand an einer derart unmenschlichen Begebenheit die Schuld trägt, liegt auf der Hand. Bevor wir jedoch mit einer Wertung beginnen, müssen wir einige Begriffe und Sachverhalte klar definieren:

  1. In unserem Beispiel beziehen wir die Schuldfrage nicht direkt auf den Akt der Hinrichtung als solchen, sondern auf den Verlauf des Schicksals der letzten Tage im Leben dieses bedauernswerten Menschen.
  2. Wir werten nur die Geschehnisse der vorliegenden Erzählung und lassen alles was darüber hinausgeht (z. B. die sich daraus ergebende Vorgeschichte der Deportation etc.) außen vor.
  3. Wir sprechen von ethisch-moralischer Schuld, nicht von Schuld im juristischen Sinne oder von objektiver Schuld (Ursache-Wirkungs-Prinzip, nachdem z. B. jeder selbst schuld wäre, wenn er in eine noch so hinterhältige Falle tappte).

Beginnen wir mit dem Opfer. Inwiefern Krainski bezüglich der zu klein hergestellten Achsen eine Absicht unterstellt werden kann, lässt sich nicht mit allerletzter Sicherheit klären. Fakt ist, dass industriell gefertigte Eisenwaren damals wie heute grundsätzlich strengen Toleranzen unterlagen. Maßabweichungen im Bereich von einigen hundertstel Millimetern können dazu führen, dass ein Bauteil unbrauchbar ist. Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, dass es sich um versuchte Sabotage handelte. Zwangsarbeiter standen unter hoher psychischer Belastung, waren außerdem körperlich kaum bei Kräften und mussten bei schlecht verrichteter Arbeit mit allen Konsequenzen rechnen (trotzdem sind einige Fälle von Sabotage dokumentiert). Für unsere Schuldbewertung macht es allerdings keinen Unterschied, wie die abweichenden Maße der hergestellten Achsen zustande kamen und ob es sich dabei evtl. sogar nur um einen Vorwand handelte. Krainski ist Opfer und nicht Täter. Die Regeln machten andere, darauf hatte er keinen Einfluss.

Weiter mit den anderen Häftlingen. Hätten sie die Möglichkeit gehabt, in das Geschehen einzugreifen? Wohl eher nicht. Definitiv nicht ohne Einsatz des eigenen Lebens. Bereits der Versuch hätte höchstwahrscheinlich die öffentliche Hinrichtung der gesamten Mannschaft zur Folge gehabt. Selbstverständlich traf sie ebenfalls keine Schuld.

Somit haben wir die Unschuldigen bereits ausgeschlossen. Alle weiteren Beteiligten teilen sich die Schuld (manche von ihnen werden in meiner Kurzschilderung nicht explizit genannt):

  • Die Firmenleitung, die den Brief verfasste und damit das Schicksal des Arbeiters besiegelte (die möglichen Konsequenzen billigend in Kauf genommen oder sogar bewusst herbeigeführt).
  • Beteiligte des Regierungssitzes, die besagten Brief behandelten und weitere Schritte einleiteten (hierzu sind keine näheren Informationen überliefert).
  • Der SS-Gruppenführer, der durch Unterzeichnung des Todesurteils den Weg zur Hinrichtung ebnete.
  • Weitere SS-Männer, die Krainski während des Abendappells unter anderem mit den Gewehrkolben ins Gesicht schlugen.
  • Der junge SS-Offizier, der die Hinrichtung leitete und dem zum Tode verurteilten Häftling am Vorabend mehrmals ins Gesicht trat.

Natürlich kann der Schuldanteil jedes Einzelnen nur wage beurteilen werden, wobei die besondere Brutalität des jungen SS-Offiziers und der anderen SS-Männer herausstechen.

Anderer, hypothetischer Fall:
Es ergeht ein Erschießungsbefehl. Ein Gefangener wird erschossen. Wer trägt die moralische Verantwortung? Der Befehlshabende oder die ausführenden Männer?

Richtig: Alle Beteiligten. Allerdings werden/wurden derartige Exekutionen eben aus diesem Grunde normalerweise nicht von Einzelpersonen ausgeführt. Somit teilt sich die Schuld auf mehrere Menschen auf und das Handeln jedes Einzelnen wird von der so gerne gemachten Fehleinschätzung „auf mich kommt's nicht an“, oder „mein Handeln ändert kaum etwas“, unterstützt. Eine ähnliche Denkweise ist auch schuld an dem Phänomen, dass in größeren Menschengruppen oftmals kaum jemand von sich aus Bereitschaft zeigt, einem Einzelnen zu helfen. „Warum sollte ausgerechnet ich helfen, sind ja genug andere hier“, denkt sich die Mehrheit. Deshalb: Wer selbst in eine derartige Notsituation gerät, sollte gezielt bestimmte Personen um Hilfe bitten, sonst kann es passieren, dass die gesamte Menschenmenge stehen bleibt und nur zusieht. In der Psychologie ist dieses Phänomen bekannt.

Und damit will ich das Thema beenden. Ich hoffe du hast dich beim Lesen nicht gelangweilt. In jedem Fall sollten wir grundsätzlich nicht nur über unser Handeln und das der Anderen reflektieren, sondern auch über jegliche Form des Nicht-Handelns.

In diesem Sinne...

Dein Manu